Sieben

Im territorialen Bereich der deutschen Hanse in Nord- und Nordosteuropa wurden zahlreiche Bronzeschalen gefunden. Hanseschalen dienten zumeist als Handwaschbecken. Im profanen Bereich zeigen sie eine verfeinerte Tischkultur zu einer Zeit an, als man zu mehreren Personen ohne Besteck in dieselbe Speiseschüssel griff. Sakrale Funktionen hatten sie als Auffangbecken für das Wasser bei einer Taufe oder für Handwaschungen während der Messe.


Zu sehen ist eine goldene Schale.
Hanseschale, Rheinland, 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts, KSM 1985/141. Foto: rba_KSM1985_141

Die romanische Bronzeschale gehört einer Gefäßgattung an, die zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert in Europa vor allem im Ostseegebiet verbreitet war. Da dort der wirtschaftliche Kernraum der späteren Hansestädte lag, bezeichnet man sie als »Hanseschalen«, obwohl zum Zeitpunkt ihrer Entstehung die Hanse noch nicht existierte. Die Bronzeschalen haben als mobile Handwaschbecken gedient und konnten bei zeremoniellen wie alltäglichen Handlungen eingesetzt werden. Bei der Taufe, bei Handwaschungen im liturgischen Vollzug, bei höfischen Festbanketten, bei der morgendlichen Toilette, vor allem aber zur Reinigung der Hände vor den Mahlzeiten standen sie in wohlhabenden Haushalten bereit. Sie sind hier nicht zuletzt Ausdruck der Verfeinerung einer Tischsittenkultur in einer Zeit, als man noch zu mehreren mit den Händen in ein und dieselbe Speiseschüssel zu langen pflegte.

Die Besonderheit der Hanseschalen besteht in den mit dem Tremolierstich ausgearbeiteten Motiven, die den Beckenboden und die Wandung zieren. Zur Ausführung kamen mythologische Themen, biblische Geschichten und Heiligenlegenden und – mit 60 Belegen die größte Gruppe – Tugend- und Lasterdarstellungen mit bezeichnenderweise deutlich überwiegendem Interesse an Letzteren, wofür auch das vorliegende Exemplar ein Beleg ist.

Die Schale zeigt mittig eine weibliche Figur, Personifikation der Todsünde Superbia, wie die Umschrift ausweist. Sie hält in der Linken einen Spiegel oder sinnigerweise eben eine Hanseschale. Sechs weitere namentlich bezeichnete weibliche Personifikationen bilden um sie einen Kreis und vollenden die Siebenzahl der Todsünden. Ihre steil aufgerichteten Haare erinnern an modische Punkerfrisuren, verweisen in ihrer Zeit aber an die dem Teufel bzw. dem Wahnsinn verfallenen Seelen der Sünder. In den Flächen zwischen diesen Halbfiguren wachsen stilisierte Bäume zur Beckenwandung hoch. Sie tragen anstelle von Früchten je drei weitere Lasternamen. Der ausführende Künstler war offenkundig des Lateinischen nicht mächtig; so schlichen sich hier Auslassungs- und Endungsfehler in die Rechtschreibung ein.

Kein Zufall ist die zentrale Darstellung der Superbia, galt sie doch seit Augustinus als aller Sünde Anfang, als »Wurzel« allen Bösen, versinnbildlicht in Luzifers Hochmut und Fall. Erst mit der Scholastik des Hochmittelalters setzte sich aber die Siebenzahl der im Übrigen variierenden Hauptlaster durch. Bei Hugo von St. Victor (um 1096–1141), Lambert von St. Omer (um 1060–1125) oder im beliebten »Speculum virginum« (Spiegel der Jungfrauen) entfaltet sich in dieser Zeit das literarische Bild der Tugend- und Lasterbäume mit ihren spezifischen Früchten. Das Speculum fand seit der Mitte des 12. Jahrhunderts im Rheinland Verbreitung und kommt folglich als literarisches Vorbild für die Gestaltung der Schale in Betracht. Ein um 1150 in Maria Laach entstandenes, heute im Historischen Archiv der Stadt Köln befindliches Exemplar zeigt die Miniatur eines sich aus dem Haupt der Superbia entfaltenden Lasterbaumes, an dem in zahlreichen Beischriften die Lasternamen hängen. Mit solchen den literarischen Stoff umsetzenden Buchmalereien wird auch der Terminus post quem festzulegen sein, ab dem das Thema auch auf andere Gattungen – und nicht zuletzt unsere Hanseschale – übersprang.

Zu beantworten bleibt noch die Frage: Warum muss ausgerechnet an einem überwiegend im profanen Haushalt benutzten Gefäß an all die Laster erinnert werden? Die Antwort liegt in der das Seelenheil gefährdenden Nutzungsmöglichkeit begründet, etwa bei der Morgentoilette der selbstverliebte Blick in den Spiegel bzw. in das spiegelnde Wasser der Schale oder beim Händewaschen die Aussicht auf ein in Völlerei und Trunkenheit ausartendes Mahl.

Jahrhunderte im Erdreich des Hafenareals verborgen, kam die Bronzeschale 1984 wieder zum Vorschein – ein geradezu perfektes Timing: Positionierte sich das Stadtmuseum doch gerade auch mit seiner Mittelalterabteilung neu und stand noch dazu das »Jahr der romanischen Kirchen« vor der Tür.


Hanseschale, Rheinland, 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts, Bronze, graviert, H: 6 cm, Dm: 30,2 cm, Gewicht: 435 g. Beschriftung in Schalenboden und Wandung, mittig: SUPERBIA (Hochmut); umlaufend: LIBIDO (Begierde), AVARICIA (Geiz), IDOLATRIA (Götzendienst), INVIDIA (Neid), IRA (Zorn), LUXURIA (Prunk-, Genusssucht) Wandung, umlaufend: PECCATU[M] (Sünde), DOLUM (Hinterlist), ODLUS [Odium] (Rachsucht) | [VAN]AG[LO]RIA (Eitelkeit), PIGRICIA (Trägheit), [D]E[S]PERATIA [-IO] (Verzweiflung) | [DIS]SENSIO (Zwietracht), TRISTICIA (Traurigkeit), [F]UROR (Wut, Raserei) | [I]N[M]UNDICIA (Unehrlichkeit), MALICIA (Bosheit), EBRIETAS (Trunksucht) | FRAUS (Verbrechen, Betrug), CRAPULA (Völlerei), [A]EMULATIO (Eifersucht) | AMBICIO (Ehr-, Ruhmsucht), CONTENTIA [-IO] (Streitsucht), SUSPICIO (Argwohn), Inv.-Nr. KSM 1985/141. Anfang 1984 beim Aushub Rheinufertunnel gefunden, 1985 Ankauf von Antiquitäten O. Schmitt Köln, für 48.000 DM mit finanzieller Unterstützung der Freunde des Kölnischen Stadtmuseums e. V. Foto: rba_KSM1985_141

Autor: Dr. Ulrich Bock