Zukunft braucht Herkunft – Oberbürgermeisterin Henriette Reker über ihre Gefühle und Wünsche für Köln und unsere Geschichte(n)
Text: Michael Bischoff
Das alles erzählt Henriette Reker der Journalistin Birgitt Schippers in unserem neuen Podcast. Die parteilose Politikerin (67) führt seit der Kommunalwahl am 22. Oktober 2015 als Oberbürgermeisterin die politischen Geschäfte der Stadt und wurde am 27. September 2020 in ihrer Funktion wiedergewählt. Sie überlebte kurz vor der ersten Wahl ein Attentat und wurde dadurch erstmals bundesweit bekannt.
Der Terminkalender der vielbeschäftigten Politikerin ist randvoll. Doch für den Podcast des Kölnischen Stadtmuseums nahm sie sich viel Zeit. Willkommen auf einer spannenden Zeitreise, die fast 2000 Jahre zurückführt.
Auf Zeitreise mit Henriette Reker
Wir sprechen zuerst über die Anfänge unserer Stadt: Die Stadtrechte verdankt Köln der machtvollen Römerin Agrippina, die Jüngere. Das war 50 nach Christus. Und es sollten fast 2000 Jahre vergehen, bis zum ersten Mal eine Frau es tatsächlich an die politische Spitze der Stadt schaffte. „Agrippina hatte so viel Einfluss, weil sie einen einflussreichen Mann geheiratet hatte, nämlich Kaiser Augustus“, erzählt Henriette Reker. „Heute ist das Gott sei Dank etwas anderes. Frauen können auch Entscheidungen treffen und Einfluss haben, wenn sie nicht reich geboren oder gut verheiratet sind.“
Sie selber, verrät sie uns, habe ihr Amt übrigens nie als besondere Herausforderung erlebt, weil sie eine Frau ist. „Ich bin nie diskriminiert worden. Ich konnte immer mit meinen Argumenten überzeugen und hatte auch immer genug Selbstbewusstsein, so aufzutreten, dass man mich auch als Frau ernst genommen hat.“
Emotionale Fragen
Die neue Dauerausstellung im Stadtmuseum erzählt Geschichte anhand von emotionalen Fragen. Für OB Henriette Reker ein überzeugendes Konzept. „Die Kölner und Kölnerinnen verbinden traditionell große Gefühle mit ihrer Stadt,“ sagt sie und verweist auf das Karnevalslied ‚Wenn ich an Kölle denk…‘. „Wir sind alle nicht nur Lokalpatrioten, sondern wir haben auch alle unsere Lieblingsplätze, unsere Lieblingslieder. Und das ist, glaube ich, in einer Stadt, die so alt ist, typisch.“
Welche Emotionen verbindet sie mit Köln? „Ich hab‘ schon ein warmes Gefühl, wenn ich an meine Heimatstadt denke. Musik bringt mich dann natürlich ins Schwärmen.“
Was macht diese Stadt aus? Reker fasst ihre Sicht so zusammen: „Dass hier die gegenseitige Akzeptanz möglich ist. Dass jeder so leben kann, wie er will. Dass die Stadt für Kunst und Kultur steht. Und dass die Stadt auch für Sportveranstaltungen steht. Das ist eben einfach was Besonderes.“
WAS VERBINDET UNS?
Köln steckt voller spannender Geschichte(n). Wenn Henriette Reker innerhalb der 2000jährigen Stadtgeschichte auf eine Zeitreise gehen könnte, wann und wo würde sie am liebsten landen?
Ihre Antwort verblüfft, denn die Tour wäre relativ kurz und würde nur rund 75 Jahre zurückführen: „Beim Wiederaufbau der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg.“ Und warum? „Weil meine Mutter zu den Trümmerfrauen gehörte. Sie hat mir von diesem Gemeinschaftsgefühl erzählt, von dem Zusammenhalt der Menschen.“
Die Mutter gestand ihrer Tochter, dass die Arbeit an manchen Tagen sogar richtig Spaß gemacht habe, weil sie auch etwas Neues schaffen konnten.
Der Wiederaufbau fasziniert Reker auch aus einem anderen Grund. Denn heute sind viele Gebäude aus der damaligen Zeit auch ein Problem: „Alle sind gleich gleichzeitig gebaut, alle müssen auch gleichzeitig saniert werden. Manchmal ist es schon interessant zu erfahren, was man sich gedacht hat, als man ein solches Bauwerk errichtet hat.“
Was bindet uns sonst noch? Glauben Sie, dass die Menschen vielleicht früher mehr Zusammenhalt hatten? Reker ist sich sicher. „Ja, ich denke schon, dass der Zusammenhalt ein anderer war. Das habe ich auch noch erlebt. Wir beziehen uns ja jetzt überwiegend auf Familienangehörige oder Freunde. Aber ich glaube, dass man früher eben in Zünften zusammengesessen oder in Verbänden häufiger zusammengearbeitet hat.“
Reker rundet’s kritisch ab: „Uns geht es inzwischen so gut. Wir haben so viel erreicht, dass wir uns in uns selbst zurückziehen können und viele sich nur noch um sich selbst kümmern mögen. Das ist sehr, sehr schade“.
Starke Frauen
Die Liste starker Frauen in Köln ist lang. Vor allem in den letzten Jahrzehnten haben sie sich immer erfolgreicher in Spitzenämter von Verwaltungen, Wirtschaft, Medien, Kultur und Unterhaltung gekämpft.
Wer ist für Henriette Reker eine starke Kölnerin? Für die Antwort muss sie nicht lange überlegen und greift in die jüngere Geschichte. Spontan nennt sie Hertha Kraus (1897-1968) und beginnt zu erzählen:
„Sie hat mit 25 Jahren beim damaligen Oberbürgermeister Konrad Adenauer als Leiterin der Fürsorgestelle begonnen. Der hat sie nach Amerika geschickt. Dort hat sie sich informiert, wie man in Amerika mit Seniorinnen und Senioren umgeht, wie man sie wohnen lässt oder behandelt und pflegt. Dann kam sie zurück und gründete die Heimstätten, heute Sozialbetriebe Köln, die größte Alten- und Pflegeeinrichtung Europas.
Hertha Kraus war eine ganz moderne Frau, lebte mit ihrer Freundin zusammen, also offen lesbisch. Das gefiel natürlich nicht jedem, und schon gar nicht den Nationalsozialisten. Sie war zudem Jüdin und emigrierte schließlich dann nach Amerika. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte sie zurück und hielt hier Vorträge. Das ist großartig. Sie liebte ihre Stadt, denn sonst hätte sie vielleicht gute Gründe gehabt, nicht zurückzukehren“.
WAS MACHT UNS ANGST?
Noch heute macht Henriette Reker im Rückblick die Nazi-Zeit Angst. „Weil wir heute ja politische Bestrebungen sehen, die auch extremes rechtes Gedankengut haben. Ich bin sehr froh, in einer Stadt zu wohnen, die sich als einer der ersten Städte dagegen gewehrt und demonstriert hat mit vielen Tausend Menschen gegen rechtsextreme Strömungen.“
Doch die Politikerin findet auch kritische Töne: „Ein bisschen betroffen war ich, dass in Köln nach dem 7. Oktober 2023 (der brutale Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel / Anm. d. Verfassers) nicht deutlicher gemacht wurde, dass Judenhass keinen Platz bei uns hat und dass der Bestand des Staates Israel zur Staatsräson gehört. Und dass wir natürlich auch die Juden, die in Köln leben, schützen und eng begleiten.“
Für Reker ist es ein Wunder, dass nach der Nazi-Zeit so viele Juden und Jüdinnen in ihre Heimatstadt zurückkehrten und hier auch neue Synagogen errichteten. „Das ist doch wirklich ein Wunder! Da geht man nach dieser schrecklichen Situation, die man hier erlebt hat, zurück in die Stadt, wo man herkommt, und bleibt da und gründet wieder eine Familie“.
WORAN GLAUBEN WIR?
Köln wächst nach der Nazi-Zeit erfolgreich neu zusammen. Das thematisiert auch das Kölnische Stadtmuseum. Es geht sogar noch weiter: In der neuen Dauerausstellung steht eine Kippa der kölnischen Karnevalsgesellschaft „Kippa Köpp“ einem Sarik gegenüber, der Gebetsmütze eines muslimischen Imam.
Ist ein friedliches Miteinander der Religionen in dieser Stadt möglich?
Henriette Reker bejaht das ausdrücklich und betont: „In Köln leben 130 Religionsgemeinschaften überwiegend friedlich miteinander. Wir haben einen Rat der Religionen, der dabei das gesellschaftliche Commitment herstellt.
Außerdem freut sie sich, „dass der Ruf des Imams einmal in der Woche freitagmittags für fünf Minuten zum Gebet aufruft. Das ist nicht die erste Stadt in Deutschland, wo so etwas möglich ist. Aber es ist für mich ein Zeichen, dass Religionsfreiheit ernst genommen wird und dass hier jeder auch glauben kann, woran er möchte“.
WAS BEWEGT UNS?
Der Kabarettist Konrad Beikircher hat einmal gesagt „Kölner sind unregierbar, weil sie alle einen eigenen Kopf haben!“
Wie sieht das die amtierende Oberbürgermeisterin? „Wenn man davon ausgeht, dass Regieren heißt, irgendwie ein Edikt zu erlassen, und alle richten sich danach, dann ist das vielleicht richtig.“
Reker ist aber auch Realpolitikerin: „Trotzdem müssen wir natürlich diese Millionenstadt steuern, weil es ja nicht selbstverständlich ist, dass hier der Müll abgeholt wird. Und dass die Kinder im Gesundheitsamt auf ihre Schulfähigkeit überprüft werden. Dass Menschen versorgt werden, die auf soziale Hilfsleistungen angewiesen sind. Das geschieht ja alles nicht von selbst“.
Dass viele Menschen sich auch über viele Dinge beschweren, die nicht funktionieren, sieht sie positiv. Das beweise in ihren Augen, dass die Bürger und Bürgerinnen sich für ihre Stadt interessieren und mitreden möchten. Das nimmt sie sehr ernst:
„Öffentlichkeitsbeteiligung heißt für mich, zu erklären, dass nicht alle Wünsche und Bedürfnisse erfüllt werden können. Manchmal sind sie ja auch so unterschiedlich, dass sie sich widersprechen. Aber ich erkläre dann auch den Leuten, warum ich ihre Anregungen nicht aufnehmen kann, und meistens klappt das“.
WAS LIEBEN WIR?
Was lieben die Kölner*innen alles? Natürlich das Feiern. Große Feste, kleine Feste. Karneval, Cologne Pride, Sportevents. Das ist natürlich in der neuen Dauerausstellung ebenfalls ein wichtiges Thema. Auch Henriette Reker lässt sich vom positiven Reiz gerne anstecken. „Die Feierkultur ist schon sehr ausgeprägt. Darum lachen mich ja auch alle so fröhlich an, wenn ich international unterwegs bin.“
Zum Feiern gehört natürlich aus das Schwade, das Reden. Dabei verrät uns Henriette Reker ein persönliches Gespräch von zuhause: „Ich bin ja mit einem Australier verheiratet. Der hat neulich mal, als ich wegen Halsschmerzen sehr ruhig war, gefragt, warum ich nicht mit ihm spreche. Er sei schon so daran gewöhnt, dass ich immer erzähle“.
Was die Politikerin ansonsten noch so ganz privat liebt, das sind Reibekuchen. Die muss sie einmal in der Woche essen, „sonst gerät mein seelisches Gleichgewicht durcheinander“. Und natürlich trinkt sie auch Kölsch, oder? „Hin und wieder, wenn es nicht vormittags ist. Also tagsüber kann ich das nicht, weil dann bin ich besinnungslos. Abends schmeckt es mir nach dem dritten Kölsch am besten“.
Wie beschreibt sie sich selber? „Ich bin ein konfessioneller Mischling. Also, ich bin evangelisch getauft und konfirmiert, war aber auf einem erzbischöflichen Gymnasium, auf der Liebfrauenschule. Meine frühere Direktorin, zu der ich heute noch Kontakt habe, hat mir vermittelt, dass es letztlich auf die Herzenswärme ankommt. Dass es nichts nützt, seine Kleider zu zerreißen, sondern man muss sein Herz zerreißen für andere“.
WAS HOFFEN WIR?
Was können wir aus der Geschichte lernen? Für Henriette Reker ist Köln eine Bürger*innenstadt. „In Köln hat eben nie ein Kaiser oder König reagiert. Nicht mal unser Dom gehört zum Erzbistum, sondern er gehört sich selbst. Ja, die hohe Domkirche entscheidet selbst darüber, was am Dom passiert und mit dem Dom passiert.“
Zu Henriette Rekers Wunschliste für die Zukunft gehört die Vielfalt der Stadtgesellschaft: „Wir haben nicht nur 130 Religionsgemeinschaften, wir haben auch fast 180 Nationen unterschiedlicher Herkunft. Ich hoffe, dass es uns gelingt, diesen Zuzug nach Köln, diese Migration nach Köln als Chance zu betrachten. Das ist auch ein Zeichen der Bürgerstadt, dass wir eben den Menschen sehen, egal, wo er herkommt. Eine solche Stadtgesellschaft ist eben nicht mit irgendwelchen Edikten zu regieren, sondern nur, wenn man Einvernehmen herstellt“.
AUS DER VERGANGENHEIT FÜR DIE ZUKUNFT LERNEN
Der Blick in die Vergangenheit verrät viel über die Gefühle der Menschen und diese Stadt. Das beweist die neue Dauerausstellung sehr eindringlich, informativ und unterhaltsam. Doch warum ist das Kölnische Stadtmuseum auch so wichtig für die Zukunft unserer Stadt?
„Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Zukunft Herkunft braucht. Deswegen ist natürlich auch das Stadtmuseum unglaublich wichtig für diejenigen, die sich immer wieder vergewissern wollen. Darum sollte man da auch viel häufiger hingehen als nur einmal als Schüler und vielleicht dann als Großmutter oder Großvater.“
Aus der Vergangenheit lernen, heißt für sie auch: „Es gibt keine bessere politische Gesellschaftsform. Die schlechteste Demokratie ist immer noch besser als die ‚beste‘ Diktatur“.
Was wünscht sich Henriette Reker abschließend für die Zukunft?
Reker: „Ich wünsche mir für Köln, dass wir jetzt die Transformation schaffen, denen ja alle Städte als Herausforderung unterliegen. Das heißt, dass wir von der nach dem Zweiten Weltkrieg wieder erbauten Auto-Stadt zu einer Stadt werden, die attraktiv ist für alle. Ich wünsche mir, dass wir die Energiewende hier in Köln so schaffen, dass wir nicht Angst haben müssen vor Abhängigkeiten.
Ich wünsche mir, dass wir eine lebenswerte Stadt haben. Dass wir unsere Grüngürtel schützen, dass wir das genießen, was wir haben. Vor allen Dingen wünsche ich mir auch, dass die Kölnerinnen und Kölner, die hier arbeiten und leben wollen, sich das auch leisten können, dass sie eine Wohnung finden und dass sie aufgenommen werden in ihren Veedeln und ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln.
Ich wünsche mir für die Zukunft, dass es uns gelingt, diese Transformation zu schaffen, und auch anfängliche Schwierigkeiten überwinden, indem wir uns das Ende vorstellen, nämlich ein besseres Leben in dieser Stadt für alle“. Dabei kann der Blick zurück sehr hilfreich sein. 2000 Jahre Kölner Geschichte sind ein kostbarer Schatz der Erinnerungen und Gefühle. Ohne das Wissen um die Herkunft gibt es keine Zukunft.