Ein Klavier, ein Klavier
Die Künstlerin Mary Bauermeister war Mitglied der Happening- und Fluxusbewegung, die in den 1960er-Jahren im Rheinland einen Schwerpunkt hatte. In ihrem Atelier in der Kölner Altstadt versammelte sie regelmäßig namhafte Künstler ihrer Zeit wie Nam June Paik oder Joseph Beuys zu »Konzertaktionen« mit Happening-Charakter, bei denen Klaviere nicht nur gespielt, sondern auch traktiert und umgeworfen wurden. 1962 zog sie mit ihrem Mann Karlheinz Stockhausen nach New York, wo sie mit ihren »Linsenkästen«, solch einer zum Thema Piano ist hier zu sehen, große Beachtung fand.
Mary Bauermeisters Linsenkasten »pst piano« gibt Rätsel auf. Halb- und Viertelkugeln verschiedener Größe sind auf einer quadratischen Platte montiert. In der rechten Ecke liegt ein wie hingeworfen wirkendes Band. Durch eine quadratische Öffnung in der Mitte blickt man in einen durch waagerecht eingesetzte Glasplatten unterteilten Schaukasten, in dem weitere Kugelformen locker verteilt sind. Auf den Scheiben sind strahlende Prismen aufgelegt, alles in gebrochenem Weiß und zusätzlich mit schwarzer Tusche und sparsam farbig bemalt. Man erkennt Worte, Buchstaben, Zahlen, organisch wirkende Formen, eine Klaviertastatur, Hände auf Tasten und fratzenhafte Gesichter. Ein rechts an die Tafel angehängter beweglicher Flügel zeigt die Mitteltafel wie ein traditionelles Gemälde in perspektivischer Schrägansicht, gleichsam ein ironischer Kommentar zur Mitteltafel, bei der die Grenze zwischen den klassischen Gattungen der zweidimensionalen Tafelmalerei und der dreidimensionalen Skulptur aufgehoben scheint. Das scheinbar spontan zusammengewürfelte Ensemble erweist sich als ästhetisch geordneter, formal und inhaltlich durchdachter Mikrokosmos.
Man fühlt sich erinnert an mittelalterliche Reliquienkästen, miniaturisierte Kunst- und Wunderkammerkästen der Renaissance- und Barockzeit, aber auch an die dadaistischen Merz-Collagen von Kurt Schwitters, die in den 1930er Jahren entwickelten »Koffermuseen« von Marcel Duchamps, die Schachtelassemblagen von J. Cornell aus den 1940er Jahren und an deren Nachfolger von Joseph Beuys, Wolf Vostell oder Daniel Spoerri seit den späten 1950ern.
Die Letztgenannten waren Mitbegründer der Happening- und Fluxusbewegung, die seit circa 1960 im Rheinland einen Schwerpunkt hatte und in der Mary Bauermeister (geb. 1934) und ihr 1957 bezogenes Atelier in der Kölner Altstadt (Lintgasse 28) eine zentrale Rolle spielten. Provokativ gegen die vom Warenwert bestimmte Hochkunst gerichtete Aktionen und Objekte zielten auf die formale und inhaltliche Überwindung traditioneller Kunstformen und eines ebenso traditionellen Kunstverständnisses. Eine führende Position übernahm dabei die Avantgardemusik, die in Köln mit dem 1951 beim Westdeutschen Rundfunk gegründeten Studio für elektronische Musik und dem Komponisten Karlheinz Stockhausen (verheiratetet mit Mary Bauermeister seit 1967) weltweit führend war.
Schlüsselereignisse der Happening- und Fluxusbewegung waren »Konzertaktionen« im Atelier Bauermeister im Jahr 1960, die die Anwesenden zu Lachstürmen hinrissen. Hauptakteure waren unter anderen Nam June Paik, John Cage, Wolf Vostell und Joseph Beuys. Klassische Klavierstücke wurden verfremdet, das Piano mit verschiedenen Gegenständen traktiert, auch umgeworfen. John Cage wurde die Krawatte abgeschnitten und seine Haare von Paik shampooniert.
1962 zogen Bauermeister und Stockhausen nach New York. Die Begegnung mit amerikanischen Pop-Art-Künstlern führte Mary Bauermeister ins Zentrum der Avantgardekunst. Sie entwickelte die Kunstform der Linsenkästen (sogenannt wegen der eingelegten Glasprismen), die große Beachtung fanden.
Der Kasten im Kölnischen Stadtmuseum, entstanden 1964, ist ein charakteristisches Beispiel für die von ihr sogenannten »Denkkästen mit verzerrten Gedanken«. Eindeutigkeit wird vermieden, aber die Textfragmente, die Bildkürzel und der Titel verweisen auf ihre Intention. »Perhaps« und »no more memories« stehen für die Verweigerung der inhaltlichen Festlegung und der Tradition, die Zahlen könnten Anspielungen auf kosmologische Symbolik sein. Schwerpunkt ist jedoch die Anspielung auf das Klavier. Dafür sprechen nicht nur der Titel »pst piano«, sondern auch die winzige, hieroglyphisch wirkende Schrift auf dem Kastenboden: »Viola + Piano + PST + 3 is too much …«, die Zeichnungen einer Klaviertastatur und von klavierspielenden Händen. Bauermeister spielt hier auf die Happeningaktionen in ihrem Atelier an, bei denen ein von Nam June Paik malträtiertes Klavier wohl als Symbol der abgelehnten bürgerlichen Musikkultur im Zentrum des Geschehens stand. Damit ist ihr Linsenkasten im Stadtmuseum ein bedeutendes Zeugnis der Entwicklung Kölns zu einem weltweit beachteten Zentrum der Avantgardekunst in den 1960er und 1970er Jahren.
Mary Bauermeister: pst piano, New York, 1964, Holz, Glas, Tusche, Farbe, H: 51 cm, B: 51 cm, T: 17,2 cm, angehängter Flügel H: 22 cm, B: 18 cm. Inv.-Nr. KSM 1999/176. Ankauf von der Galerie Schüppenhauer, Köln, mit Mitteln der Kölner Kulturstiftung der Kreissparkasse Köln. Foto: rba_ksm1964
Autor: Dr. Rolf Lauer