Vision der Emanzipation
Als bedeutende Ergänzung der Judaica-Sammlung wurde 1963 dieses Gedenktuch geschenkt. Es zeigt einen jüdischen Jom-Kippur-Gottesdienst im deutschen Heer vor dem belagerten Metz im Oktober 1870. Allerdings ist dieses Tuch weniger eine Erinnerung an ein Ereignis als vielmehr Zeugnis des jüdischen Strebens nach Gleichberechtigung.
Auf einer Anhöhe in einem von bewaldeten Hügeln umgebenen Gelände steht ein Tora-Schrein mit Tora-Vorhang, bekrönt mit den Gesetzestafeln und dem erhöht stehenden, in den Tallit gehüllten Feldrabbiner, der aus der Tora liest. Inmitten der versammelten Gemeinde befinden sich auch einige Soldaten mit Pickelhauben und Gebetstüchern. Abgeschirmt werden sie von christlichen Soldatenkameraden, die im Halbkreis um die Betenden herumstehen. Neben dem Rabbiner erinnert ein aufgebahrter Sarg mit aufgepflanztem Schwert an die Toten des Krieges. Über der Darstellung steht in Hebräisch und Deutsch: »Haben wir nicht alle einen Vater, hat nicht ein Schöpfer uns geschaffen?« (Mal. 2,10) und unten in einer großen Kartusche, ebenfalls in Hebräisch und Deutsch: »Gottesdienst am Versöhnungstage des Jahres 5631 im Lager vor Metz«. In den vier Ecken findet sich ein Hymnus von Rabbiner Ludwig Philippson (1811–1889), der endet: »Erhoben durch den Glauben, ermutigt zu der Pflicht, sind sie bereit zum Kampfe, sie steh‘n und wanken nicht.« Allerdings fand dieser Jom-Kippur-Gottesdienst am 4./5. Oktober 1870 vor dem belagerten Metz, das am 27. Oktober 1870 kapitulierte, keineswegs vor »1.200« Beteiligten auf offenem Feld statt, wie die Inschrift suggeriert. Für dieses Datum sind lediglich Gottesdiensthandlungen durch den aus Mannheim entsandten jungen Rabbiner Dr. Isaak Blumenstein (1843–1903) bezeugt, jedoch nicht unter freiem Himmel, sondern in einem Bauernhaus mit 60 bis 70 jüdischen Soldaten.
Dieses später produzierte Erinnerungstuch, das in eine ganze Reihe ähnlicher Druckerzeugnisse zum Krieg gegen die Franzosen gehört, zeigt nicht das wirkliche Geschehen, sondern illustriert den Wunsch nach Gleichberechtigung. Man kann es fast als »Vision der Emanzipation« bezeichnen. Beschworen wird – einmal mehr – die Befähigung der Juden, in der deutschen Armee zu dienen, also die Religion mit den Anforderungen der Nation in Einklang zu bringen – und dies in den Zeiten des Krieges. Das Motiv der die jüdischen Kameraden schützenden [man fragt sich: vor wem?] christlichen Soldaten stellt die Integration als Faktum dar und lobt zugleich die religiöse Toleranz des Königs, der diesen Gottesdienst erlaubt hatte.
Während die jüdischen Einwohner des französisch besetzten Rheinlands schon ab 1798 volle Bürgerrechte genossen, blieb ihnen dies in Preußen noch lange verwehrt. 1812 erhielten sie in Preußen zwar die Staatsbürgerrechte, waren auch von der 1814 eingeführten allgemeinen Wehrpflicht betroffen, aber alle Armeeränge blieben ihnen verwehrt. Der Vereinigte Landtag erreichte 1847 eine weitere Annäherung der Rechtsstellung der jüdischen Mitbürger, vom Offiziersberuf blieben sie weiterhin ausgeschlossen. Erst die 1848er Verfassungen brachten die vollständige Gleichberechtigung. Im Herbst 1848 gab es auch in Preußen die ersten Offiziersernennungen von jüdischen Militärärzten. Doch bald galten wieder Einschränkungen. Ein Gesetz des Norddeutschen Bundes über die Gleichberechtigung der Konfessionen von 1869 bedeutete die völlige Aufhebung der bürgerlichen Beschränkungen der Juden, das Offizierskorps blieb ihnen weiterhin verwehrt.
Und doch waren die jüdischen Preußen 1870 genauso eifrige Patrioten wie ihre christlichen Mitbürger. Eine Erhebung von 1894 ermittelte 4.700 jüdische Teilnehmer des Deutsch-Französischen Krieges, 483 Verwundete oder Gefallene sowie 373 Auszeichnungen mit dem Eisernen Kreuz oder Ähnlichem – das entsprach ihrem Bevölkerungsanteil. Es gab zahlreiche jüdische Sanitätsoffiziere, über 100 Juden wurden zu Reserveoffizieren befördert, aber nur ein einziger brachte es in der aktiven Armee zum Oberstleutnant. Doch danach setzte erneut ein Rückfall in reaktionäre Ansichten ein – jüdische Offiziere waren im wilhelminischen Deutschland unerwünscht. Um 1910 gab es in der preußischen Armee keinen einzigen jüdischen Offizier, die Habsburger-Monarchie hingegen hatte 2.179, darunter sogar einen Feldmarschall.
Das Erinnerungstuch gelangte wohl im Zuge der durch die Ausstellung Monumenta Judaica hervorgerufenen Aufmerksamkeit als Geschenk von H. H. Katzenstein aus Zürich ins Museum.
Gedenktuch an den Gottesdienst am Versöhnungstage des Jahres 1870 im Lager vor Metz, u. re. monogrammiert: GM, Deutschland, 1870. Baumwolle, rot und braun bedruckt; H: 67,7 cm, B: 69,2 cm, Inv.-Nr. KSM 1963/329. Schenkung von H. H. Katzenstein, Zürich, 1963. Foto: rba_KSM1963_329
Autor: Rita Wagner M. A.