Unter den Talaren
Die Uniformierung der wilhelminischen Gesellschaft umfasste alle Bereiche, auch das Justizwesen. Darum ließ sich der Wirkliche Geheime Oberjustizrat Dr. Albrecht Nückel als Zeichen seiner neuen Würden eine Hoftracht bei dem darauf spezialisierten Unternehmen Mohr & Speyer anfertigen.
Das Wilhelminische Zeitalter neigte sich dem Ende zu und der Erste Weltkrieg warf schon seine langen Schatten voraus, als ein verdienter Kölner Jurist am 5. Dezember 1910 in Stettin zum Wirklichen Geheimen Oberjustizrat erhoben wurde. Und sich damit das Recht erwarb, diese neue Hoftracht Erster Klasse, Halbgala, zu festlichen Gelegenheiten zu tragen. Vermutlich gleich am Tag danach ging Dr. Albrecht Nückel zum Schneider, um sich diese besondere Ausstattung anfertigen zu lassen. Sie folgte den hohen Ansprüchen und Vorlieben des Kaisers für Uniformen, wie dieser sie im sogenannten Wartburg-Erlass am 1. Mai 1890 festgelegt hatte: Wilhelm II. wünschte, dass »in Beziehung auf die Trachten die schönen Sitten und Gebräuche früherer Zeit wiederum zur Geltung gelangen« – wobei gänzlich offenblieb, welche Sitten und Gebräuche Ihre Majestät da genau meinte. Für die Schneiderzunft war es nämlich nur ein »mäßig anliegendes Phantasie-Jacket«.
Dem Wunsch seines Monarchen entsprach der stets als treu ergeben bezeichnete Nückel wohl nur zu gern, waren doch Auszeichnung und Hoftracht höchste Anerkennung für ein Leben im Dienste des Kaiserreichs und seiner Rechtsprechung.
Die Familie Nückel war der Domstadt und der Jurisprudenz seit vielen Generationen eng verbunden. Schon Albrecht Nückels Vorfahr Johann Caspar – aus Westfalen stammend – hatte sich im 18. Jahrhundert um die Universität zu Köln als Dekan der juristischen Fakultät verdient gemacht und diente der Stadt in öffentlichen Ämtern. Nachfahre Albrecht, obwohl im fernen Bremen am 6. Oktober 1849 als Sohn eines Kaufmanns geboren, eiferte dem berühmten Familienmitglied nach. Das Jurastudium schloss er in Heidelberg mit Auszeichnung ab und machte dann eine steile Karriere. Nach ersten Stationen in Remscheid und Elberfeld erreichte er 1890 als Landgerichtsrat Köln, die Stadt seiner Vorfahren.
Für Juristen war die ehrwürdige Domstadt als führender Gerichtsstandort der Rheinprovinz ein lohnendes Betätigungsfeld. Innerhalb weniger Jahre stieg Nückel auf vom Oberlandesgerichtsrat über den Senatspräsidenten bis zum Präsidenten des Landgerichts Köln 1902. 1906 vorübergehend als Oberlandesgerichtspräsident nach Stettin gerufen, kehrte er am 1. Januar 1914 zurück: als Präsident des Kölner Oberlandesgerichts – mit neuen Ehren als Geheimer Wirklicher Oberjustizrat und schicker neuer Einkleidung. Man mag sich lebhaft vorstellen, wie er in dieser Hoftracht die repräsentative Treppe im gerade fertiggestellten monumentalen neubarocken Justizgebäude am Reichenspergerplatz hinaufschritt.
Doch Nückel konnte den Ruhm nicht lange genießen: Mitten im Ersten Weltkrieg zwang ihn ein Nierenleiden am 1. Oktober 1916 in den vorzeitigen Ruhestand, am 17. Januar 1917 verstarb er in Köln.
Seine Hoftracht verblieb jahrzehntelang wohlverwahrt in Familienbesitz. Zusammen mit anderen Objekten und zahlreichen Graphiken aus dem Besitz von Albrecht Nückels verschiedenen Nachkommen fand das einst stolz getragene repräsentative Gewand des Juristen aus der Kaiserzeit den Weg in das Museum. Ist es eine Ironie der Geschichte, dass es ausgerechnet im Jahr 1968, als die aufbegehrenden Studenten andernorts den »Muff aus tausend Jahren unter den Talaren« anprangerten und ein konservatives Weltbild erschüttert wurde, von seiner Nachfahrin Elisabeth Nückel dem Kölnischen Stadtmuseum geschenkt wurde?
Hoftracht des Wirklichen Geheimen Oberjustizrats Nückel, Köln, Mohr & Speyer, 1910, Frack und Hose: blauer Wollstoff, Sprengtechnik, Silberstickerei. Weste: cremefarbene Seide und Baumwolle, Litzenbesatz. Zweispitz: schwarzer Filz mit Straußenfedern. Degen: Metallklinge, Perlmutt, Lederscheide. Maße des Anzugs: Jacke RL: 97 cm, Hose L: 110 cm; Zweispitz: H: 15 cm, B: 45 cm. Inv.-Nr. KSM 1968/801 = T 535. Schenkung von Elisabeth Nückel, Porz, 1968. Foto: rba_d033462
Autor: Dr. Beate Dorfey