Die Welt zu Gast bei Freunden

Vom 9. Juni bis zum 9. Juli 2006 fand in Deutschland die 18. FIFA-Fußballweltmeisterschaft statt. Vier Wochen lang stand in der Bundesrepublik alles im Zeichen des Sports. Während vor Turnierbeginn nicht einmal als sicher galt, ob die deutsche National-Elf überhaupt die Vorrunde überstehen würde, überraschte die junge Mannschaft von Trainer Jürgen Klinsmann mit temporeichem Offensivfußball. Dem 4:2 im Auftaktspiel gegen Costa Rica folgten das 1:0 gegen Polen und der 3:0-Sieg gegen Ecuador. Mit dem folgenden 2:0 gegen Schweden und dem 4:2 gegen Argentinien im Elfmeterschießen rückte der Titelgewinn in greifbare Nähe.


Man sieht eine Autofenster-Deutschlandfahne aus dem WM-Jahr 2006.
Autofenster-Deutschlandfahne zur WM 2006. Foto: rba_d033515

Es wurde ein Sommer grenzenloser Fußballliebe. Millionen feiernde Menschen bevölkerten bei mediterranen Temperaturen die Fanmeilen im ganzen Land. Jedes Spiel des deutschen Teams wurde zum Volksfest, »Public Viewing« zum geflügelten Wort. Das Magazin »Der Spiegel« sprach von einer »nationalen Love Parade«. Selbst nicht eingefleischte Fußballfans wurden von einem euphorischen Wir-Gefühl erfasst und fühlten sich eins mit »ihrer« Mannschaft. Der Aufschrei, als der gerade erst eingewechselte Oliver Neuville die bislang torlose Partie gegen Polen in der Nachspielzeit in ein 1:0 verwandelte, war Medienberichten zufolge womöglich einer der lautesten, den die Bundesrepublik je gehört hatte. Während des Elfmeterkrimis gegen Argentinien stand das ganze Land still – und debattierte anschließend hingebungsvoll über DEN Spickzettel. Zwar beendete Italien im Halbfinale den Traum vom WM-Sieg, doch nach der Überwindung des ersten Schreckens bejubelten die deutschen Fans den dritten Platz wie einen Titelgewinn.

Auch Köln befand sich 31 Tage lang im WM-Ausnahmezustand. Bis zu 300.000 Fans feierten an den Spieltagen vor den Großleinwänden am Heumarkt, Roncalliplatz, am Schokoladenmuseum und am Deutzer Rheinufer. Die gesperrte Altstadt und die bald ebenfalls gesperrte Zülpicher Straße verwandelten sich nach den deutschen Spielen in eine einzige große Partyzone. Von dem früheren, aus der Vergangenheit resultierenden relativ
zurückhaltenden Umgang der Deutschen mit den Nationalfarben war während der WM-Feierlichkeiten wenig zu spüren. Deutschlandfahnen, schwarz-rot-goldene Schals, T-Shirts, Blumenketten, abwaschbare Tattoos, Aufkleber, Perücken und Ohrringe prägten allerorts das Bild. Während bei der WM vier Jahre zuvor kaum jemand mit einem schwarz-rot-goldenen Wimpel an seinem Auto über die Straßen gefahren war, vermeldete die Flaggenindustrie nun Rekordumsätze. Bis zu fünf Millionen Flaggen wurden insgesamt verkauft. Noch nie seit 1945 haben die Deutschen »so begeistert und selbstverständlich ihre Nationalfahnen geschwenkt«, resümierte der SPIEGEL. Selbst die früher eher schweigend verfolgte Nationalhymne wurde von vielen Fans offen mitgesungen. Waren 1994 noch 44 Prozent der Bevölkerung überzeugt, dass es sich aufgrund der deutschen Geschichte weitgehend verbiete, Nationalgefühle zu demonstrieren, teilten 2006 nur noch 22 Prozent diese Meinung. Vor allem jüngere Fans betrachteten die bundesweite Beflaggung als ein normales WM-Phänomen.

In Feuilletons und Talkshows fand als Reaktion auf das Fahnenmeer eine intensive Debatte über den »neuen Patriotismus« statt. Ein Großteil der Politiker
sprach sich ausdrücklich dagegen aus, in der flächendeckenden »Beflaggung« den Vorboten eines neuen Nationalismus zu sehen, und erklärte die schwarz-rot-goldene Euphorie vielmehr zum Zeichen einer positiven Identifikation mit dem eigenen Land. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler bezeichnete die patriotischen Bekundungen als »Parallelerscheinung zum rheinischen Karneval«. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die zeitgleich zur WM vor einem unreflektierten Umgang mit der Nationalhymne warnte, zog breite Kritik beispielsweise vonseiten der BILD-Zeitung auf sich. Unberührt von diesen Diskussionen, blickten die meisten Deutschen mit dem »Sportfreunde Stiller«-Song »’54, ’74, ’90, 2010« hoffnungsvoll auf die nächste WM.

Der ausgestellte Autofensterwimpel wurde 2006 dem Kölnischen Stadtmuseum von Georg Schäfke, dem Sohn des damaligenen Direktors, geschenkt. So bewahrt das Museum einige der ältesten und jüngeren schwarz-rot-goldenen Fahnen.


Autofenster-Deutschlandfahne zur WM 2006. Aufschrift: Willkommen in Köln / EXPRESS. Synthetikfasern; H: 43 cm, B: 61 cm. Inv.-Nr. KSM 2006/195. Schenkung von Georg Schäfke, Köln. Foto: rba_d033515

Autor: Dr. Wibke Becker