Die kühnen Knaben und das dumme Lied

Fast schon gegen Ende des ersten industriell betriebenen Krieges im noch so jungen 20. Jahrhundert erwarb das Museum am 18. Juni 1917 die vier Teller mit den Strophen des seinerzeit beliebten Liedes von Nikolaus Becker aus Geilenkirchen: »Sie sollen ihn nicht haben/ Den freien deutschen Rhein« – als wertfreies Dokument der Zeit? – oder zur patriotischen Aufrüstung des Betrachters?


Man sieht mehrere Teller mit Rheinliedversen.
Vier Teller mit Versen aus dem Rheinlied, Ende des 19. Jahrhunderts. Fotos: rba_d033570 – rba_d033573

Die Schrift ist angelehnt an die gotische Fraktur, das Dekor im Stil der Neorenaissance – die Teller entstanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Mit Strophen eines populären Lieds waren sie die Zierde eines bürgerlichen Haushalts. Ein harmloses Relikt der längst vergangenen »guten alten Zeit«?

Scheinbar harmlos nur. Denn die Verse haben es in sich. Sie zitieren das »Rheinlied« von Nikolaus Becker, veröffentlicht im September und Oktober 1840 in Trier und Köln in einer hochbrisanten Situation. Frankreich sah sich aufgrund eines Konfliktes im Orient diplomatisch gedemütigt und verlagerte sich auf ein anderes Thema: das Rheinland. In Pariser Zeitungen ertönte 1840 der Ruf nach der Rheingrenze und somit der Annexion des Rheinlandes. Damit sind die »gierigen Raben« gemeint, die »sich heiser danach schrei‘n«.

Die Rheinländer aber bekannten sich zum »deutschen Rhein«, getragen von einer Woge von Gedichten und Gesängen. Am populärsten war Beckers »Rheinlied«. In Paris blieben »Les Rheinlieder« nicht ohne Echo. Der Dichter Alfred de Musset antwortete Becker mit »Le Rhin allemand«. Mit böser Ironie spielte er auf das ehemals französische Rheinland an: »Wir haben ihn gehabt, Euren deutschen Rhein«. Die Franzosen verzichteten auf eine Intervention, die Krise war beigelegt – nicht aber die Folgen dieses diplomatischen Fehlers: Beseitigt waren die Gegensätze zwischen Rheinländern und Preußen, die jetzt nicht mehr als Besatzer, sondern als Beschützer wahrgenommen wurden. Die Rheinkrise hatte einen von Frankreich unterschätzten Aufschwung des deutschen Nationalismus zur Folge.

Die Atmosphäre blieb aufgeheizt, Stimmen wie die von Heinrich Heine, der im Pariser Exil lebte und in Deutschland steckbrieflich verfolgt wurde, waren die Ausnahme. In »Deutschland. Ein Wintermärchen« berichtete er 1844 von seinem Besuch in Köln, wo er den Vater Rhein zu Wort kommen und sich über Beckers »dummes Lied« beschweren ließ, das die Sinne verwirrt habe. Im Vorwort provozierte Heine die Verteidiger des »deutschen Rheins«: »Seid ruhig, ich werde den Rhein nimmermehr den Franzosen abtreten, schon aus dem ganz einfachen Grunde: weil mir der Rhein gehört. Ja, mir gehört er, durch unveräußerliches Geburtsrecht, ich bin des freien Rheins noch weit freierer Sohn, an seinem Ufer stand meine Wiege, und ich sehe gar nicht ein, warum der Rhein irgendeinem andern gehören soll als den Landeskindern.«

Die Kölner machten spätestens seit dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 ihren Frieden mit den Preußen und wurden kaisertreue Patrioten. Die »Wacht am Rhein« erschallte beim Festzug zur Domvollendung 1880. Dem »Erbfeind« Frankreich wollte man mit Waffengewalt begegnen. Ganz anders Georg Herwegh, der im nationalen Überschwang 1840 selbst ein »Rheinweinlied« verfasst hatte (»Der Rhein soll deutsch verbleiben«). Er dichtete 1871 ernüchtert: »Gleich Kindern lasst ihr euch betrügen, / Bis ihr zu spät erkennt, o weh! – / Die Wacht am Rhein wird nicht genügen, / der schlimmste Feind steht an der Spree.«

Die vier Teller mit den denkwürdigen Versen erwarb das Museum am 18. Juni 1917 vom Kölner Kunsthändler Alfred Werther für 36 Mark. Die im »Rheinlied« beschworenen »kühnen Knaben« waren 1914 begeistert in den Ersten Weltkrieg gezogen, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Romantische Lieder wirkten wie Hohn in der Hölle aus Schützengräben und Granaten, in der die Jugend Europas ihr Leben ließ. Das Jahr 1917 war von weltpolitischer Bedeutung: Deutschland betrieb die Revolutionierung Russlands, die USA traten in den Krieg ein. Zwei Supermächte standen nun auf der Bühne der Geschichte. Es war das Ende der alten Welt und des alten Europas.


Vier Teller mit Versen aus dem Rheinlied,Rheinland (?), Ende des 19. Jahrhunderts. Porzellan, bemalt, Dm: 20–22,4 cm. Aufschriften: HM 1917/77b: »Sie sollen ihn nicht haben / Den freien deutschen Rhein, / So lang dort kühne Knaben / Um sanfte Mädchen frei‘n«, HM 1917/77c: »So lang die Flosse hebet / Ein Fisch aus seinem Grund / So lang ein Lied noch lebet / In seiner Sänger Mund«, HM 1917/77d: »Sie sollen ihn nicht haben / Den freien deutschen Rhein, / Ob sie wie gier‘ge Raben / sich heiser danach schrei‘n«, HM 1917/77a: »Sie sollen ihn nicht haben / Den freien deutschen Rhein, / So lang sich Herzen laben / An seinem Feuerwein.« Ankauf von Alfred Werther, Köln, 1917, für 36 Mark. Fotos: rba_d033570 – rba_d033573

Autor: Dr. Mario Kramp